EINSAMKEIT
Sie schleicht sich in deinem Leben hinein, und ist in dir, bis du sie nicht verjagst…
Du hast alles zum Scheitern gebracht. Du hast die Firma riskiert. Deshalb begannst du soviel zu trinken. Und was nun? Nun bist du auch allein geblieben. Du hast dein Leben aufgegeben. Du hast es fertig gemacht. Vielleicht ist es besser so. Allein zu bleiben. Du kannst niemandem schaden.
—
Du bist eine dumme Frau! Deine Beziehung wegen eines Erlebnisses fertig zu machen. Es ist spät zu bedauern. Du hast seine Wut verdient. Würdest du so eine Tat verzeihen? Vergiss über die Männer. Sie sind nicht für dich….
—
Der Weg nach Santiago de Compostella. Manche legen ihn für sechsundzwanzig, achtundzwanzig Tage. Du hast Zeit. Niemand interessriert sich für dich schon. Du kannst ihn sogar zwei Monate gehen.Am besten ist es, dass er niemals endet. Du kannst nirgendwo zurückkehren. Nicht in deinem bisherigen Leben.
Es war Mittag. Du hattest etwa fünfzehn Kilometer zurückgelegt. Du hast beschlossen, im nächsten Dorf ein Alberge zu suchen. Der siebte Tag, und du hast bloß etwa einhundert Kilometer zurückgelegt. Und immer wünscht man dir „Buen camino“. Es war nicht leicht. Nicht die Schmerzem in den Beinen oder im Rücken waren die Ursache. Dich verfolgte die Erinnerung vom Flop in der Firma. Du hast die Arbeit von mindestens drei Kollegen zum Scheitern gebracht. Niemand hat dich gehalten, und mit Recht, wenn du deinen Antrag zum Entlassen einreichtest. Jetzt bist du allein. Du kannst keinem anderen , außer dir selbst, schaden. Wie sollst du den anderen erklären, dass du allein sein willst. Sie werden dich nicht verstehen.
Es wurde notwendig, dass du noch sieben Kilometer zurücklegst. In den vorigen zwei Dörfern gab es nur Hostels. Dein Geldbeutel erlaubte sie nicht. Du musst sparen. Dieses Alberge war gut. Du strecktest den Schlafsack über dem Bett und legtest dich darauf. Fast alle andere Betten waren schon besetzt. Nur drei Plätze oben am Fenster waren frei. Du bist in deinen Gedanken gesunken. Du hast etwa eine Stunde geschlafen. Es war spät geworden. Du musst dir etwas zum Abendessen kaufen.
Zwei Jungen saßen vor dem Geschäft beim Bier. Heute haben sie dich eingeholt, ihr habt Grüße getauscht und an die Adresse von den Radfahrern gescherzt. Sie haben dich bemerkt. “Wirst du dich nicht hinsetzen?” Du hast ein kleines Bier bestellt. Aus Skandinavien seien sie. Heute haben sie zweiundvierzig Kilometer. Die Neugier trieb sie dazu, soviel zurückzulegen. Sie wollten auch andere Leute treffen. Diese, die vor ihnen waren. Jetzt werden sie das Tempo für ein, zwei Tage verlangsamen. So lernten sie mehr Leute auf dem Weg kennen. In ihrem Leben beschäftigten sie sich mit Kunst . Von Kunst verdiene man nicht viel, deshalb sei es mehr ein Hobby. Sie hätten auch eine Werbeagentur. Manche ihrer Kunden waren großartig. Sie vertrauten ihnen an. Es sei eine Vergnügung für sie zu arbeiten. Von diesem Business werde man nicht reich, aber es reiche dazu, dass es Zeit und Ressource für das Hobby gibt. Und du….?
Wie sollst du es erklären. Es war ein Schmerz von dir zu erzählen. Du blicktest in die Ferne. Du suchtest eine Rettung oder Lösung. Du hast dich entschlossen. Du wirst ihnen anvertrauen. Ihr kennt euch nicht. Das Einzige, was dich hemmt, ist der Scham. Du wirst ihn Überwinden.
Du hast gesagt, woher du kommst. Der Weg nach Santiago ist dein Versteck. So hast du es ihnen gesagt. Du hast dich vor Scham versteckt. Der Scham, dass du verführt hast. Sie hörten dich aufmerksam zu. Sie rissen ihre Blicke von dir nicht los. Ihr habt noch ein Bier bestellt. Du hast alles erzählt. Aus deiner Sicht. So, wie es deine Seele empfand. Du hast auch mitgeteilt, wie du dich fühlst. Du hast ihnen vom Wunsch, allein zu sein, mitgeteilt. Du brauchtest Zeit. Du brauchtest eine Lösung. Was kommt nach dem Weg? Du verstummtest. Du hast alles das ausgesprochen, was in dir verborgen war und dich so bedrückte.
Das Geschäft war wenig besucht. Ein altes Paar kaufte sich Wein. Eine Frau mit ernstem Gesicht nahm Wasser und einige kleine Dinge zum Abendessen. Sie sah bedrückt, beunruhigt aus. Es gab auch zwei Einheimischen. Sie diskutierten über etwas und sie fanden sichtlich keinen einmütigen Beschluss. Nach deiner Erzählung folgte eine Stille. Die Jungen sahen dich. Ein peinliches Schweigen. “ Halte nicht! “ hat der Kleinere gesagt. Es erwies sich, dass die beiden für das Gehörte interessiert waren. Sie fanden Worte für dich. “ Du bist ein starker Mensch, wenn du alles, was dir geschehen ist, überdenken, erzählen kannst. Das Wichtigste ist, dass du darüber bist. Dir ist es gelungen, das Ego zu unterdrücken und triffst eine richtige Entscheidung. Denkst du dir, nicht wahr, dass die anderen keine Fehler machen? Sie machen Fehler, aber sie verbergen sich. Sie haben nicht den Mut sich zu verbessern. Die Einsamkeit löst das Problem nicht. Die Einsamkeit kann dich nur vernichten. Du kannst. Du weißt ja, jede Sache, die dich nicht zerstört, macht dich stärker. Höre nicht auf zu suchen.”
Ihr habt gemeinsam Abendbrot im Alberge gegessen. Niemand sagte ein Wort über das von dir Gesagte. In der Küche sammelte sich eine gute Gesellschaft. Es wurde lustig. Die Leute teilten Eindrücke, Emotionen, Scherze. Die Frau vom Geschäft erschien auch. Sie aß schnell Abendbrot und verschwand. Dir wurde es leichter. Diesen Abend hast du tief geschlafen. Wann du wach wurdest, waren alle aufgebrochen. Du, noch zwei Mädchen ind eine kleine Gruppe Leute im Rentenalter wart als Letzte geblieben.
Ein paar Tage vergingen. Du bist auf die Jugendlichen noch einmal gestoßen. Mehr hast du sie nicht gesehen. Wahrscheinlich waren sie schon in einer anderen Gruppe. Nach dem Gespräch mit ihnen wurde es dir leichter. Es war unglaublich, aber deine Gedanken begannen sich zu ordnen. Dir war es nicht mehr nötig, dich vor den anderen zu verstecken. Du machtest Bekanntschaften, befragtest, sogar gönntest du dir einem jungen Mann, der seinen Beruf wechseln wollte, einen Rat zu geben. Es gab Leute, mit denen ihr täglich zusammen wart. Du bist auch auf jene Frau aus dem Geschäft gestoßen. Sie war ein interessanter Mensch. Sie mied alle Blicke. Allein überall. Auf dem Weg eilte sie und wenn du sie einholst, erhöhte sie das Tempo. Wahrscheinlich stießt du auf sie eine ganze Woche . Nach einiger Zeit verschwand sie. Du dachtest dir, dass du sie auch nicht wiedersehen wirst. Jeden Tag triffst du neue Gesichter. Manche hast du eingeholt, andere haben dich eingeholt. Du hast einen Menschen getroffen, der auf dem Weg von seinem Haus aufgebrochen hat. Er war nicht gesprächig, aber er war ein guter Mensch. Er strahlte Weisheit aus. Du empfandst es. Er sprach nur seine Muttersprache, aber das störte nicht um eine Kaffeepause gemeinsam zu erleben. Du wünschtest dir, in seinem Alter dieselbe Energie zu haben. Die Weisheit auch zu treffen.
Die Zeit heilt. Die Zeit gibt dir die Möglichkeit, Lösungen zu finden. Der Weg stellt dir Zeit in Hülle und Fülle zur Verfügung. Du hattest mehr als die Hälfte vom Weg nach Santiago de Compostella zurückgelegt. Du hast nachgedacht, was nach dem Weg wird. Es fehlte nicht an Ideen. Vielleicht ein eigenes Business zu haben. Dir gefiel auch die Idee, in einem anderen Staat zu leben. Es würde ein interessantes Experiment sein. Es gibt Zeit. Lasse den Gedanken reifen.
Die Großstädte gaben dir Ideen. Es war für dich eine Vergnügung dich beim Bier im Stadtzentrum zu setzen. Die Leute zu beobachten. Hier hat das Leben einen unterschiedlichen Rhythmus. Es ist nicht, wie in deiner Heimat. Man spürt keine Spannung, Aggression, Unruhe. Diese Leute beherrschen die Ruhe.
Du hast sie gesehen. Die Dame vom Geschäft, die Frau, die läuft, die beunruhigte Frau. Sie bemerkte dich auch. Alles geschah von sich selbst. Du bist aufgestanden, hast sie eingeholt. Ihr seht euch auf dem Weg. Warum könnt ihr ein Glas Wein nicht trinken? Wenn es ein Problem gibt „Verzeihen Sie, dass ich Sie gestört habe”. Sie sah dich an. Ging mit dir an den Tisch. Sie war eine Frau um etwa fünfunddreißig Jahre, schlank, mit einem schönen Gesicht und langen Haaren, hochgesteckt. Du könntest sie als eine Schöne bestimmen, wenn sie nicht so seriös wäre. Es fehlte ein Lächeln auf diesem Gesicht.
Ihr unterhieltet euch. Sie war nicht gesprächig, aber du übernahmst die Initiative in deinen Händen. Du sprachst von deinen Tagen hier. Es ist toll. Schon denkst du, wie du das nächste Jahr wieder hierher kommst. „Warum sind Sie jetzt gekommen?” Direkt ins Ziel. Du bist nicht so direct in den Schmerz zurückgekommen, nach dem Gespräch mit den beiden Jungen. Du hast nachgedacht. Es scheint, du hast schon die Verlegenheit, den Scham, den Schmerz vom verlorenen Leben überwunden. Du fühltest dich sicher. Du hast ihr alles anvertraut, so wie du es das vorige Mal erzählt hast. Der Unterschied war, dass es jetzt nicht niedergeschlagen klang. Du warst sicher in der Zukunft. Die Zukunft ist dein. Sie hängt nur von dir und deinen Träumen ab. Wenn du allein bist, bist du kein Bildhauer deines Lebens. „Sie wissen doch, dass das, was uns nicht zerstört uns stärker macht.“ Deine Worte erklangen sicher. Du hast dich selbst von der Verwandlung in dich überrascht. Die Vergangenheit war hinter dir und jetzt war es nur von Bedeutung, die richtigen Lösungen zu finden. Ein neues Leben zu beginnen.
Schon duztet ihr. Du hast ihr deine Gedanken anvertraut, aber sie war offensichtlich nicht von den Frauen, die gern anvertrauen. Ihr spracht so eine, zwei Stunden vielleicht. Die Zeit zu gehen kam. Sie ist in einem anderen Alberge, nicht in deinem. Kein Problem. Morgen trefft ihr euch auf dem Weg. Ihr habt euch verabschiedet. Eine interessante Frau. Sie hat nicht gelächelt. Nicht einmal. Bestimmt war sie nicht dein Typ, aber es gab irgendwelche Anziehung. Vielleicht wegen des Weins.
Am nächsten Tag habt ihr euch nicht gesehen. Ihr habt euch auch am übernächsten Tag nicht getroffen. Dir blieb die angenehme Erinnerung an das Gespräch, an den Wein, an die Freude am Anvertrauen. Du hast die Einsamkeit von dir verjagt. Du hast viele andere Leute kennengelernt. Hier waren die Freundschaften herzlich. Es gab keine verborgene Gedanken. Du bist nicht gezwungen, geheim zu sein. Du hast von niemandem und nichts zu verbergen. Einen Abend habt ihr sehr toll verbracht. Ein Jugendlicher spielte Gitarre. Er hat alle in der Küche versammelt. Eine tolle Fete. Und jener Mensch mit der amerikanischen Countrymusik. Eh, wenn es mehr solche Abende geben könnte.
Die Tage vergingen. Das Endziel war nicht weit. Du verstehst, dass du nicht der Einzige bist, der nicht will, dass der Weg endet. Noch etwa hundert Kilometer und Schluss. Jeder, woher er ist. Du wirst sicher E-mails an alle Adressen, die du dich aufgeschrieben hast, schicken. Das sind Freunde. Selbstverständlich kann es so sein, dass du sie nie mehr treffen wirst, aber sie bleiben Freunde. Du hast soviel Weg mit ihnen geteilt. Sonne, Regen, dunkle Morgen, gemeinsam verbrachte Abende, Fotos zur Erinnerung, Hilfe bei Notwendigkeit. Alles das verändert dich. Lädt dich mit Energie auf.
Du bist zum Pilgeroffice gelangt. Du hast bekannte Gesichter gesehen, vorne für ein Dokument zu warten. Ihr habt euch begrüßt. Es war schwer zu sagen, ob ihr glücklich wart. Der Weg wird euch fehlen. Du hast deine Pilgerbescheinigung genommen und setzte dich beim Bier. Toll. Du fühlst dich toll. Du bleibst hier für ein, zwei Tage und brichst zum Ozean auf. Du gehst deine Vergangenheit zu verbrennen. Du bist für einen neuen Anfang bereit.
Nach Finistera bist du mit dem Bus gefahren. Du wirst dir auch hier zwei Tage gönnen. Dieses Städtchen ergreift dich. Die Strecke zum Leuchtturm hast du zweimal zurückgelegt. Du hast alles, was dich mit der Vergangenheit verband, verbrannt. Du hast lange zum Horizont gesehen. Du wolltest nicht von den Felsen weggehen. Es sollte eine Flasche Wein geben. Eine tolle Idee. Was sind drei Kilometer? Du gehst in die Stadt und dann Wieder zurück. Drei und drei, sechs Kilometer. Du hast sie soviel Male zurückgelegt. Du hast nicht lange nachgedacht. Du gingst nach unten.
Beinahe hast du den Sonnenuntergang verpasst. Die Flasche hattest du noch im Geschäft aufgemacht. Du sahest der untergehenden Sonne zu. Eine Schönheit. Du kannst das nicht jeden Tag haben. “Hallo”.Sie kam aus dem Nichts. Es dämmerte. Du gabst ihr die Flasche, einen Schluck zu trinken. “ Ich danke dir. Du hast mit das Leben wiedergegeben. Das, was mich nicht zerstört, macht mich stärker “.
Es wurde dunkel. Ihr habt auf dem Weg zur Stadt geredet. Dann folgte gute Nacht. Sie war in einem anderen Alberge. Ihr habt euch nie mehr getroffen.
—
Du blicktest durch das Fenster zu der Brücke in die Ferne. Im Office, hinter dir arbeiteten deine Beamten. Seit langem träumtest du, ein eigenes Business zu haben. In diesem skandinavischen Land fühltest du dich gut. Hier hast du auch die Frau deines Lebens getroffen.
—
Der Tag war zu Ende. Sie wendete sich an den Saal. „Behält das: Das, was euch nicht zerstört, macht euch stärker. Das habe nicht ich entdeckt. Das ist das Leben.” Die Kursteilnehmer gingen weg. Es war spät geworden. Draußen im Auto wartete auf sie ihr Ehemann. Der tollste Mensch, den sie getroffen hat. Sie erinnerte sich auch an den Mann vom Weg. Wer war er?
Santiago de Compostella 3.10 . 2015/ Madrid 10.10.2015