WEIL
Diese, die wissen, warum auf dem Weg sind
Das Leben ist wunderschön. Genauso wolltest du es in deiner Kindheit haben. Du arbeitest das, wovon du immer geträumt hast. Es ist dir gelungen ein eigenes Heim zu schaffen. Deine Familie ist groß und ihr lebt in Frieden. Was kann man sich noch mehr wünschen.
Wenn nur jenes Unglück vor fast zweieinhalb Jahren nicht passierte! Es war so schwer. Du warst verzweifelt. Du hast versprochen, etwas zu tun, wenn alles wieder gut geht. Sich hinzugeben sogar. Selbstverständlich hast du es nicht vergessen. Die Unruhe besucht dich ab und zu in deinem Schlaf. Du weißt, dass es Zeit ist, es zu tun. Du bist ein Mensch, der sein Wort und seine Versprechen hält.
Du hast irgendwo über den Weg nach Santjago gelesen, den Hunderte von Leuten jedes Jahr zurücklegen. Natürlich. Du wusstest schon, dass man das von dir erwartet. Den Weg zurückzulegen.
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Es war noch dunkel. Du spürst, wie alle andere um dich ihre Rücksäcke nehmen und einer nach dem andern sich auf den Weg machen. Du machst es auch. Es ist unbekannt. Du weißt nicht, was dich erwartet. Das Einzige, darin du überzeugt bist, ist dass du ihnen folgen musst. Es dämmert noch, wann du außerhalb der Stadt auf einen schmalen Pfad gerätst. Du weißt nicht wohin er führt, spürst aber Ruhe und Sicherheit. Du bist nicht allein. Du hörst die ersten Grüße. Auf Französisch, Englisch, Spanisch und sogar am ersten Tag jenen Gruß, den du auch hundertmal sagen wirst: „Buen camino“.
Du musstest den Ratschlägen folgen, die du im Internet gelesen hast. Das Überflüssige im Rücksack. Du machst in deinen Gedanken eine Liste der Sachen, die du losweden kannst. Selbstverständlich wirst du noch diesen Abend wenigstens die Hälfte der Nüsse aus dem Rücksack Verteilen. Und brauchst du ein zweites Paar Schuhe? Wahrscheinlich wiegen sie wenigstens über ein Kilogramm. Kannst du es dir leisten, das mitgebrachte Buch wegzuwerfen? Schwere Entscheidungen, und mit dem nächsten Schritt wird der Rücksack noch schwerer.
Der Pfad führt steil hinauf. Mal wird er schmaler von den Sträuchern, mal erscheinen kleine sonnige Wiesen. Hinauf. Wie lange noch? Du spürst Müdigkeit, verfügst aber deinem Bewusstsein sie zu unterdrücken. Es scheint dir, dass jetzt nach ungefähr zwanzig Schritten, nach dem Abbiegen links, das Ende des Abhangs ist. Nur noch ein wenig und du erreichst den Hügel. Wahrscheinlich scheint dort die Sonne und du hältst zur Erholung. Noch ein wenig. Ops, ein Fehler! Der Abhang endet nicht hier. Ungefähr fünfzig Meter vor dir siehst du drei Männer.Du dachtest dir, dass sie schon sehr vorwärts sind. Die Bäume haben sie von deinem Blick versteckt. Wahrscheinlich ist jenes Paar Mann und Frau ungefähr um die fünfziger auch so nahe hinter dir. Vielleicht, wenn du hältst, werden sie dich auch nach einer Minute einholen. Du gehst hartnäckig vorwärts. Hältst nicht. Du bist am Anfang des Wegs. Es gibt keine Zeit um locker zu lassen. Dich erwarten noch ungefähr siebenhundertfünfundsechzig Kilometer. Soviel stand auf jenem großen Stein geschrieben, an dem du vor zehn Minuten vorbeigingst. Du hast deine Zeit geplant und jetzt musst du deinen Körper zwingen , dir zu gehorchen .
Wieviel Schritte ist ein Kilometer? Wahrscheinlich eintausend, oder nein, eintausendzweihundert? Hat das eine Bedeutung?
Wann ist ein Mensch richtig glücklich? O, ja. Du hast die Antwort. Du warst so gespannt, wann der Arzt dich in sein Sprechzimmer rief. Schon acht Tage, niemand wollte sich verpflichten vorauszusehen, welch der Ausgang aus alledem sein wird. Du spürtest, wie die Krankenschwestern ihren Blick senkten, wenn sie an dir vorbeigingen. Du spürtest, dass alle um dich herum dir Hoffnung geben wollten, wagten es aber nicht. Du begannst dir zu denken, dass wenn das das Ende ist, es ist das Ende für die beiden. So stark war eure Beziehung. Man ließ dich nicht ins Zimmer. Du konntest sie nur vom Korridor durch das Fenster sehen. Du wolltest bei ihr sein. In deinen Gedanken hast du dich nicht von ihr getrennt. Du spürtest sie, spürtest ihr Atem, das Rhythmus ihres Herzen. In deinen Gedanken.
Der Weg lehrt dich. Er lehrt dich zu Geduld. Du hast gelernt nicht zuzulassen, dass der Gedanke dich mit leeren Hoffnungen anlügt. Schon weißt du, dass du das Alberge erreichst. Es ist nicht nötig dein Bewusstsein zu quälen. Schon fünf Tage bist du auf dem Weg. Dein Blick freut sich über die Bäume, über die ersten Sonnenstrahlen, die die Dunkelheit jagen, über die grünen Hügel oder die Dörfer hinter dir unten geblieben. Du spürst Glück, Ruhe, Sicherheit und beginnst neue Ideen und Pläne für das Leben zu schaffen. Euer gemeinsames Leben. Du weißt, dass du manchmal Fehler gemacht hast. Hartnäckig lehntest du die Ratschläge ab. Du meintest, dass dein Recht das einzige ist. Jetzt hilft dir der Weg zu begreifen und eine Balance in den Beziehungen zu suchen. Du verstehst, dass euer Zusammenleben wichtiger als deine persönliche Ziele ist.
Die Schmerzen in den Beinen werden unerträglich. Du verlangsamst deine Bewegungen und das Tempo.Du dachtest dir, dass wenn die Periode mit den Pickeln vorbei ist, und du schon fünf Pflaster auf den Zehen geklebt hast, alles zu Ende ist. Der Schmerz kommt erst jetzt. Erst jetzt schätzt du ihn. Du fragst dich, ob das das Ende ist. Kannst du weitergehen? Dein Willen und das Versprechen dich hinzugeben halten dich. Du bist ein Mensch, der fest hinter seinen Worten steht. Du gehst weiter. Der langsame Gang hat vorläufig die Muskeln deiner Beine wiederhergestellt und du gehst weiter. Du strebst , deine Gedanken woanders zu schicken, das Schmerzgespür zu unterdrücken. Es bleiben nur noch ungefähr drei Kilometer. Du legst sie zurück.
Du tratest ins Sprechzimmer des Arztes. Du wagtest dich nicht zu setzen. Du warst bereit dich mit ihr zu tauschen. Die Krankheit über dich zu nehmen, um sie zu schützen. Der Arzt blickte auf dich und lächelte. Du hörtest die so sehr erwarteten Worte „Sie wird gesund“.Der andere Teil vom Gespräch blieb nicht in deinem Bewusstsein. “Sie wird gesund” war alles, was du seit acht Tagen wolltest, wünschtest, erwartetest zu hören. Die Freude, die du gespürt hast, kann nicht beschrieben werden. Diese Freude muss man erleben. Ihr redetet ein paar Minuten, aber dein Bewusstsein war bei ihr. Du umarmtest sie in deinen Gedanken. Du küsstest sie. Man ließ dich ins Zimmer bei ihr. Du drücktest ihr die Hand. Du übertrugst auf sie Kräfte und Glauben. Du übertrugst auf sie von deiner Energie und Liebe. Es war Zeit dich hinzugeben.
Deine Beine schwellten. Man riet dir für drei Tage zu halten. Du kannst nicht halten. Du weißt, dass das, was geschehen muss, geschehen wird. Du hast niemals gehalten. Du fährst fort. Du legst kleinere Strecken zurück. Du schenkst dir zwei Fünfzehnminutenerholungen pro Tag. Du hältst nicht. Jetzt kommt auch der Rückenschmerz. Wenn du für den einen Schmerz denkst, vergisst du über den anderen. Dein Gedanke spielt damit. Du gehst vorwärts. Die Tage vergehen. Die Kilometer werden weniger. Du spürst Freude und Stolz davon, dass du dein Versprechen den Weg zurückzulegen erfüllst.
Du bist nicht allein auf dem Weg.. Schon kennst du manche Mitreisende, genauso wie du Gelübde gegeben, ihn zurückzulegen. Den Weg zurückzulegen aus Dankbarkeit für glückliche Ausgänge oder Hoffnung für die Gesundheit eines nahestehenden Menschen. Ihr redet. Ihr unterstützt euch. Ihr glaubt, und dieser Glaube schafft Energie, jedem nötig, um glücklich weiterzuleben. Die Schmerzen werden vergessen. Sie vergehen und an ihrer Stelle Kommt die Freude vom schon Zurückgelegten und Erlebten.
Man hat sie vom Krankenhaus entlassen. Nach dem achtzehnten Tag seid ihr zusammen nach Hause zurückgekehrt. Lange Zeit habt ihr umarmt gasessen und nicht gesprochen. Du und sie spürtet die Energie der Liebe. Nahe dem Menschen zu sein, den du liebst. Das Unglück war schon in der Vergangenheit.
Die Zeit verging. Dein Leben erfüllte sich wieder mit Wert. Du bist ein Mensch, der Wert schafft. Du sorgtest gut für deine Familie und deine Alltagssachen. Wenn du zurückblicktest, wusstest du, dass du für nichts bedauern sollst. Wenn du vorwärts blicktest, vergaß du nicht, dass es Zeit ist das zu tun, wofür du ein Wort gegeben hast. Du hast ein Geschäft gemacht und es war schon Zeit deinen Teil davon zu erfüllen. Du hast davon zu Hause mitgeteilt. Deine Hausleute haben dich verstanden und unterstützt. Sie halfen dir bei der Vorbereitung. Der Weg erwartete dich.
Der Weg. Wenig blieb bis zum Ende. Die Mitreisenden tauschten sich. Manche blieben zurück, andere eilten voraus. Man schloss neue und neue Kontakte. Die Landschaft änderte sich auch. Die Dörfer auf dem Weg hatten einen eigenen Reiz, jedes für sich selbst. Manche Namen merkte er sich, andere vergaß. Er spürte den Rhythmus des Lebens darin. Ein Rhythmus, mit Zeit erfüllt. Die Zeit war in Fülle und störte niemandem. Es gab genug davon für alles und für alle auf dem Weg.
Die Sonne begann später aufzugehen. Das Wetter bereitete kalte Überraschungen. An allen diesen Tagen ändertest du dich. Du hast dich physisch geändert. Dein Körper bedankte sich, dass du ihm soviel Bewegung gespendet hast. Die Schmerzen verschwanden und an ihrer Stelle trat die Leichtigkeit der Bewegung auf. Dein Denken änderte sich. Das Wahrnehmen der Umwelt war nicht nur dieses des Stadtmenschen. Du hast verstanden, dass die moralischen und physischen Werte gleich wichtig sein können. Du hast gelernt dir und den anderen nützlich zu sein.
Du begrüßt den Sonnenaufgang dort auf dem Weg. Du siehst in der Nähe keine anderen Leute, weißt aber, dass sie hier sind. Einige schreiten vereinsamt in ihren Gedanken, andere vertauschen irgendwelches Wort. Du hörst das Zwitschern der Vögel. Sie suchen sich wahrscheinlich, grüßen sich oder vielleicht grüßen den Morgen, genauso wie du. Es ist ein Glück, hier zu sein. Die Zeit zu vergessen.Zu vergessen, dass es gestern, heute und morgen gibt. Der Weg ist in der Gegenwart.
Er sah ihn halbhingelegt, nahe des Wegs. Er überholte ihn einige Schritte. Es war jener Mensch, der vor zwei Tagen auf das einzige freie Bett im Alberge verzichtete um der Frau mit den geschwollenen Beinen zu helfen. Er verzichtete auf das Bett, obwohl er wusste, dass bi s zum nächsten Alberge noch vier Kilometer gehen muss. Warum lag er? So früh, gerade sich auf den Weg gemacht ? Du bist zurückgekehrt und hast ihn gefragt , ob alles in Ordnung ist. Nein. Es war nicht in Ordnung, aber er würde selbst damit fertig werden. Du sagtest zu ihm “ Du hast ein großes Herz und ich will dir helfen „ . Bis zum nächsten Dorf waren es fast drei Kilometer. Du hast seinen Rücksack genommen und beide seid langsam vorwärts gegangen. Ein überraschender Anfall hatte ihn ohne Kräfte gelassen. Dich interessierten die Ursachen nicht. Es war wichtig, ihn zu unterstützen. Du hast das Nötige getan. Du bist genau dort und gerade in diesem Augenblick nötig gewesen. Du hast dich hingegeben.
Das Ende des Weges kam. Nur nach einem Tag sollst du in Santjago ankommen. Du erlebst die doppelte Vergnügung von dir selbst, dass du die übernommene Hingabe erfüllt hast und das Glück vom Zurückkehren zu den Leuten, die du liebst. Du spürst, dass mit diesen Gefühlen auch die anderen um dich erfüllt sind. Du bist glücklich.
Der Flug war kurz. Am Abend wart ihr alle zusammen. Es gab viel zu erzählen. Es gab auch viel, was man nicht erzählen kann. Du weißt, dass man es nur erleben kann.
“Buen camino” für alle jene Leute um uns, die sich auf den Weg machen das Leben zum Guten zu ändern.
Sarria, 27.9.2015
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